Soziale Unruhen im kommenden Winter?
von Dorothee Vakalis
Bis zur Schließung des Lagers in Idomeni Ende Mai 2016 gab es eine Medienöffentlichkeit, es wimmelte auf den Feldern von Kameras und Mikrophonen!…. Idomeni kennt heute alle Welt. Jenseits aller humanitären Standards gab es trotzdem ein soziales Klima: kreative Aktionen, improvisierte Vorzelte, Feuerstellen, Figuren aus Abfall und zu Spielzeug Umfunktioniertes. Vor allem gab es die große Hoffnung in den Gesichtern, doch noch weiter zu kommen…. In der europäischen Öffentlichkeit begann sich die Auffassung auszubreiten, dass solche unwirtlichen Zustände in Europa nicht sein dürfen.
Mit der polizeilichen Räumung wurden die Menschen ungefragt und ohne Rücksicht auf ihre sozialen Beziehungen auf einzelne Aufnahme-Lager verteilt. Diese waren vom Militär aus dem Boden gestampft worden, fern von sozialen Strukturen und gesellschaftlichem Lebeni.
Insgesamt sind heute in Griechenland auf dem Festland mehr als 35.000 Menschen in über 40 Lagern notdürftig untergebracht. Die Flüchtlinge wurden erfasst. Sie können die Lager verlassen. Nach mehr als sieben Monaten seit der Schließung der Grenzen am 30. März ist es jedoch dem griechischen Staat und den zahlreichen von EU-Geldern finanzierten internationalen Organisationen nicht gelungen, humanitäre Standards einzuhalten und menschenwürdige Verhältnisse einzurichten. ii Es mangelt überall an Kooperation und Planung. Insgesamt hat sich das Leben der Menschen verschlimmert. Das Elend nimmt angesichts des kommenden Winters und der wachsenden Hoffnungslosigkeit zu. Knapp die Hälfte – 46 Prozent – der Flüchtlinge sind Kinder! Was soll einmal aus ihnen werden?
Aus den Medien in Europa scheint diese nunmehr dezentralisierte Katastrophe, dieses Elend verschwunden zu sein. Bedrückende Fotos und Berichte von Gruppen vor Ort kursieren zwar in den social mediaiii. Doch sie finden kaum den Weg in den öffentlichen Diskurs in Deutschland.
Der Winter kommt mit Kälte und Schnee. Die provisorischen Zelte ohne feste Fussböden sind unbeheizt, Menschen schlafen auf Pappkartons, auch auf Feldbetten unter Vordächern. Anfang November ist von einem versprochenen Umzug in feste Behausungen in den meisten Lagern nichts zu sehen. Toiletten und warmes Wasser für Duschen entsprechen nicht den humanitären Standards. Ganz zu schweigen von Waschmaschinen oder gar Spielplätzen oder Gemeinschaftsräumen.
Völlig unzureichende Ernährung. Die Regierung hat Firmen beauftragt und ein einheitliches Essen-Programm aufgestellt. Das aber ist mangelhaft und nicht auf die Gewohnheiten der Menschen abgestimmt. Die Kosten (6 Euro pro Person/Tag) und Leistungen stehen in keinem Verhältnis zu einander. Eine besondere Verpflegung von Kleinkindern oder gar Diätprogramme für Menschen mit chronischen Krankheiten gibt es nicht. So ist Husam wegen falscher Ernährung mit Reis und Makkaroni erblindet. Einige versuchen, selbst zu kochen, wenn sie das Geld dazu haben. Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zur Selbstversorgung wäre eine Lösung. Das käme nicht teurer. Die Frage nach dem Profit der Unternehmer wird diskutiert
Katastrophale medizinische Versorgung. Sehr viele Flüchtlinge sind krank: Kriegsverletzungen, chronische Krankheiten, Zahnprobleme, kaputte Brillen. Schon lange haben sie keine medizinische Versorgung oder gar Vorsorge mehr erhalten. H. litt seit Monaten an einer Zahnwurzelvereiterung, bekam nur Paracetamol. Nun musste er schon dreimal operiert werden. Alle registrierten Flüchtlinge haben Anspruch auf Notfallversorgung in Krankenhäusern. Ich kenne viele Ärzte, die respektvoll um ihre Patienten bemüht sind. Aber wie kommen diese aus den entfernten Lagern dorthin? Wer übersetzt, zahlt Medikamente, pflegt und versorgt? In Krankenhäusern ist es erforderlich, dass Begleitpersonen mithelfen. Dr. Bita Kermani aus Köln berichtet, wie sie gerade noch rechtzeitig einen Mann mit einem Allergieschock behandeln konnten.iv Frauen werden nach einer Entbindung in die Camps entlassen. Es fehlt an Fachärzten, an Personal für Traumatisierte, an Hebammen für Schwangere und Stillende. Totkranke Menschen finden kaum den Weg zu einer Therapie.
Diese unmenschliche Behandlung von Menschen auf der Flucht entspricht nicht den Werten und Gesetzen, für die Europa steht. Welche politische Absicht und welches Menschenbild verbergen sich also hinter ihr? Es dominieren Abschreckung, Abwehr und Rechtlosigkeit. Dies alles findet nicht nur an den Grenzen statt, sondern auch gegenüber Menschen, die unter uns leben. Die griechische Regierung pflegt noch eine humane Rhetorik, aber in der Gesetzgebung (neues Asylgesetz) und in der Praxis (illegale Rückführungen durch griechische Polizei und Frontex in die Türkei) folgt sie dem EU-Diktat und den Anweisungen aus Berlin.
Vorhersehbar ist, dass es im kommenden Winter soziale Unruhen mit verheerenden Folgen geben wird. Im Diavata Camp wie im Lager Katsika haben Flüchtlinge bereits Büroräume besetzt und Hilfsorganisationen vom Platz verjagt. In anderen werden entsprechende Drohungen ausgesprochen. Nichts ist gut in griechischen Flüchtlingslagern!
Die Städte Osnabrück und Marburg bieten Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschlandv. Die Forderung von Pro Asyl: „Eine wirkliche europäische Lösung muss die zügige Öffnung legaler Ausreisemöglichkeiten für Schutzsuchende aus Griechenland nach Europa beinhalten“.
i Am 20.3.2015 wurden die Grenzen nach dem Türkei-EU-Deal geschlossen. Vorher waren 50.000 Menschen in Griechenland gestrandet und kamen nun nicht weiter. Bis zu 14.000 Menschen campierten in Idomeni auf Feldern. Die nach dem 20.3. 15 in Griechenland gelandeten Menschen, bis heute über 10.000, werden auf den Inseln festgehalten. Siehe Artikel Seite 4. Zu den Lagern siehe Karte des UNHCR: http://data.unhcr.org/mediterranean/country.php?id=83 (hier sind staatliche Angaben aufgenommen).
ii http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1447_en.htm EU provides €83 million to improve conditions for refugees in Greece. Siehe dort die Liste der vor allem ausländischer Organisationen.
http://davidlohmueller.com/en/refugee-camps-greece/
Dr. Khaled und Dr. Bita Kermani vom Verein Avicenna in Köln http://avicenna-hilfswerk.de/griechenland/
v hhttps://weact.campact.de/petitions/gefluchtete-aus-griechenland-und-italien-nach-deutschland-holen-relocation-jetzt-umsetzen
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„Relocation – ein europäisches Trauerspiel“
„Für viele der Flüchtlinge wäre das Relocation-Programm der Europäischen Union die einzige Hoffnung darauf, Griechenland und die katastrophalen Verhältnisse in den Lagern auf legalem Weg verlassen zu können.
Doch die Zusagen der europäischen Mitgliedsstaaten zur Aufnahme von Geflüchteten nach diesem Programm werden nur äußerst schleppend umgesetzt. Insgesamt wurden seit September 2015 lediglich gut 6100 Menschen EU-intern umverteilt (Stand: 18. Oktober 2016). Diese „Halbzeit-Bilanz“ des auf zwei Jahre angelegten Programms ist beschämend. Von den im September 2015 zugesagten 160.000 Relocation-Plätzen konnten bis heute gerade einmal 3,7 Prozent tatsächlich in Anspruch genommen werden.
Auch Deutschland hat nur einen Bruchteil der zugesagten Plätze zur Verfügung gestellt – nämlich 216 von gut 27.300. Auch die kürzlich gemachte Ankündigung, künftig monatlich bis zu 500 Geflüchtete jeweils aus Griechenland und Italien aufnehmen zu wollen, ist völlig unzureichend. Sie bedeutet nichts anderes, als dass viele Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, noch bis zu zwei weiteren Jahren unter schlechtesten Bedingungen leben müssen.“ Aus der Petition)
Das Umsiedlungsprogramm („Relocation“) ist lediglich eine europäische Vereinbarung ohne gesetzliche Absicherung und gültig für Flüchtlinge nur aus Syrien und dem Irak. Das aber hat zur Folge, dass die Menschen keinen Rechtsanspruch haben auf eine Umsiedlung und auf Widerspruch, wenn sie in ein Land geschickt werden, das nicht ihrer Wahl und ihren sozialen Bindungen entspricht. Flüchtlinge können von den Mitgliedsstaaten ohne Begründung abgelehnt werden und müssen dann in Griechenland bleiben. Bisher sind über 500 Menschen abgelehnt worden. Die Menschen sind der Willkür staatlicher Stellen ausgesetzt.
Ausgeschlossen von diesem Programm sind Flüchtlinge aus Afghanistan, Kurden aus der Türkei und dem Iran, Menschen aus Pakistan, Bangladesch und alle aus Afrika. In Thessaloniki hausen sie versteckt in Bauruinen und unter Brücken. Unabhängige Solidargruppen bemühen sich um eine notdürftige Versorgung. Ihre einzige Hoffnung sind Schleuser. Dorothee Vakalis