Die Entscheidung der Mehrheit der britischen Bevölkerung zum Austritt aus der EU hat eine heftige Debatte ausgelöst. FaktenCheck:EUROPA führt vier Behauptungen an, wie sie von der Führung der EU und seitens CDU/CSU- bzw. SPD-Politiker vorgetragen werden, und antwortet auf diese.
Erste Behauptung: „Es droht [mit dem Brexit-Ja] die Auflösung Europas“, so Francois Hollande. „Ein schlechter Tag für Europa“. So der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel.
Antwort: Seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 nahmen die EWG-Verteidiger eine Gleichsetzung von „EWG“ (später „EG“ und „EU“) mit „Europa“ vor. Diese Gleichsetzung war damals und ist auch heute problematisch: In der EU einschließlich Großbritanniens leben in 28 EU-Mitgliedsländern 508 Millionen Menschen. Dies macht 62 Prozent der 820 Millionen Menschen in Europa aus. In Westeuropa sind Norwegen, Island und die Schweiz nicht in der EU. Im Osten sind u.a. die Ukraine, Weißrussland und Russland keine EU-Mitgliedsstaaten. Wer EU mit „Europa“ gleichsetzt, grenzt noch vor einem vollzogenen Brexit mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung aus. Vor allem gilt: Die Gleichsetzung von Europa mit EWG/EG richtete sich früher gegen die nichtkapitalistischen Länder (den „Ostblock“). Dies war Teil der westlichen Politik des „Kalten Kriegs“. Heute richtet sich diese Gleichsetzung vor allem gegen Russland. Dies wurde in der Ukraine-Krise 2014/15 deutlich. Die EU verlangte von der Regierung in Kiew ein Entweder-Oder: Entweder eine Assoziierung mit der EU oder die Beibehaltung der gewachsenen wirtschaftlichen Verträge und Verbindungen mit Russland. Nach dem Sturz einer korrupten, aber legal gewählten Regierung unter Wiktor Janukowytsch, nach dem Einsetzen einer neuen, ebenfalls korrupten Regierung unter Petro Poroschenko und nach der Entscheidung dieser neuen Regierung in Kiew, Russisch als zweite Amtssprache faktisch nicht mehr zu akzeptieren, kam es zur Eskalation: Die Ostukraine spaltete sich ab. Die Krim wurde von Russland (nach positivem Referendum) einverleibt. Es kam zum Krieg zwischen der West-Ukraine und dem Osten des Landes. Bilanz: Die „Europa-Politik“ der EU trägt zu Unfrieden und Krieg bei. Die jüngsten Nato-Manöver in Polen und in den baltischen Staaten verstärken diese Tendenz.
Zweite Behauptung: Die Europäische Union verfolgt die Zielsetzungen einer stetigen „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte“, der „Hebung des Lebensstandards“, der „Verringerung des Abstands zwischen den einzelnen Gebieten“ und des „Rückstands weniger begünstigter Gebiete“. So der Wortlaut des EU-Vertrags aus dem Jahr 1992 („Maastrichter Vertrag“; Artikel 117, 113 und Präambel). In Kommentaren zum Brexit-Ja wird argumentiert, Großbritannien habe sich mit dem „Leave“-Votum gegen Wohlstand und Sozialstaat entschieden.
Antwort: Tatsächlich gibt es seit Jahrzehnten ein enormes soziales Gefälle in der EWG/EG/EU. Großbritannien selbst ist extrem nach reich und arm gespalten. Die EU hat dies gefördert und nie kritisiert. Seit 2009 wurde das soziale Gefälle in der EU durch die Krise der Peripherie-Länder vertieft. Irland, Griechenland, Spanien, Portugal und Zypern stecken in einer Sackgasse. Die EU verstärkt diese Krise, indem sie diese Länder zu einer Politik der „Austerität“ – des Sparens auf dem Rücken der kleinen Leute – zwingt. Dieses Gefälle hat für die großen Konzerne und Banken positive Folgen: In der Peripherie übernehmen diese ganze Industriezweige (siehe der Fraport-Großeinkauf in Griechenland). In den reicheren Regionen setzen sie darauf, dass Arbeitskräfte, die aus den wirtschaftlich schwachen Ländern kommen, die Löhne niedrig halten und die Profite erhöhen.
Dritte Behauptung: Das Ja zum Brexit ist ein Ja der Alten und ein Sieg der Bevölkerung in den ländlichen Regionen über die Städter. Es handelt sich um einen Sieg von Rechten und Reaktionären.
Antwort: Richtig ist, dass in der Öffentlichkeit die Brexit-Kampagne von rechten Strömungen bestimmt war. Dabei gab es auch linke und gewerkschaftliche Pro-Brexit-Kräfte. Es stimmt auch, dass die Menschen, die jünger als 40 Jahre sind, mehrheitlich für einen Verbleib in der EU, und die Menschen, die 40 und mehr Jahre alt sind, mehrheitlich pro Brexit stimmten. Ein differenziertes Gesamtbild sieht wie folgt aus: Das Pro-EU-Lager wurde bestimmt von den Führungen aller traditionellen Parteien (Konservative, Labour und Liberale). Alle Wirtschaftsverbände und alle Bosse der größten Banken und Konzerne waren in diesem Lager. Hinzu kam die gesamte „politische EU-Klasse“. Es fällt schwer, dieses Lager als fortschrittlich zu bezeichnen. In Bezug auf die soziologische Schichtung lässt sich feststellen: Facharbeiter, Geringverdiener und „untere Mittelklasse“ votierten für einen Brexit. Erst die „Mittelklasse“ und die „gehobene Mittelklasse“ stimmten für „Remain“, pro EU. Zwar stimmte in London (wo mehr als 200.000 Menschen im Bankensektor arbeiten) die deutliche Mehrheit für den EU-Verbleib. Doch in vielen englischen Industriestädten gab es deutliche Brexit-Mehrheiten. Generell lässt sich für England und Wales sagen: Je höher die Einkommen, desto mehr stimmten die Leute pro EU. Und umgekehrt. Schottland und Nordirland stimmten deutlich mehrheitlich pro EU. In Nordirland auch, weil diese arme Region von EU-Geldern abhängig ist. In Schottland vor allem, weil man sich innerhalb der EU bessere Möglichkeiten für die erhoffte größere Autonomie verspricht.
Als Bilanz ist festzustellen: Trotz deutlicher Mehrheiten pro EU in Schottland und Nordirland gab es Großbritannien-weit (also einschließlich Wales und Schottland) eine unzweideutige Mehrheit zum Austritt aus der EU. 17,4 Millionen stimmten für „Austritt“, 16,1 Millionen für „Verbleib“. Das gilt es zu respektieren – in Wort und Tat.
Vierte Behauptung: Jetzt darf es „keinen Briten-Rabatt“ geben. „Raus ist raus“. „Wenn die Briten jetzt auf Zeit spielen, dann ist das nicht akzeptabel.“ Das erste sagte FDP-Lambsdorff (MdEP). Das zweite Zitat ist O-Ton Schäuble. Mit der dritten Position betätigte sich Sigmar Gabriel als Scharfmacher.
Antwort: Alle drei Positionen laufen darauf hinaus, dass das britische Referendum in der Praxis nicht respektiert wird. Artikel 50 des EU-Vertrags sieht das Folgende vor: Nach dem Entscheid eines EU-Mitgliedslandes, die EU zu verlassen, muss abgewartet werden, bis der Austritt offiziell „mitgeteilt“ wird – was nur durch die britische Regierung, gegebenenfalls nach einem Entscheid im britischen Parlament, erfolgen kann. Danach „handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus.“ Dabei „beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des europäischen Parlaments“ über ein solches Abkommen. Dafür wird ein Zeitraum genannt von „zwei Jahren nach der […] genannten Mitteilung.“ Ergänzend heißt es, dass Rat und der betreffende Austrittskandidat beschließen können „diese Frist zu verlängern. All das heißt: Wort und vor allem Geist des EU-Vertrags besagen unzweideutig, dass die Entscheidung zu respektieren ist und dass man sich, um sie zu implementieren, Zeit lassen muss. Der Grund: Es gilt für beide Seiten zu verhindern, dass unnötiger Schaden entsteht.
FaktenCheck:EUROPA fordert, die Entscheidung in Großbritannien ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Wir sprechen uns gegen jede Art von Rache-Politik und Machtdemonstration aus. So tief der Einschnitt mit dem Leave-Votum ist, hinsichtlich zwei Punkten ändert sich nichts Wesentliches: Erstens bleibt Großbritannien mit den EU-Staaten in der Nato; EU und Nato setzen ihre Kriegstreiberei u.a. gegen Russland fort. Zweitens betreiben die größten Banken der Welt in der City of London weiter ihre Schwarzgeldzentralen und steuern von dort den am weitesten deregulierten Finanzplatz der westlichen Welt. Europa wird von den großen Banken und Konzernen beherrscht. Und hier stimmt der Begriff „Europa“.