Hunderte hätten gerettet werden können
von Angela Klein
Es gibt Bilder, die eine Epoche prägen und sich tief in das kollektive Gedächtnis eines Landes einbrennen. Unvergesslich werden den Italienern auf Jahre hinaus die Bilder bleiben, die Bürger von Bergamo in der Nacht des 18.März von ihren Fenstern aus aufnahmen: Siebzig Militärlastwagen durchquerten die Stadt in Grabesstille, einer nach dem anderen, langsam, zum Zeichen des Respekts: Sie transportierten Leichen. Sie brachten sie in Städte außerhalb der Lombardei, denn der Friedhof, das Leichenhaus, die zum Leichenhaus umgewandelte Kirche und das Krematorium reichten nicht mehr.
Am 23. Februar verzeichnete die Provinz Bergamo zwei Fälle von Corona-Infizierten aus dem Krankenhaus von Alzano Lombardo im Seriana-Tal nördlich von Bergamo. Eine Woche später waren es schon 220, fast alle in diesem Tal. In Codogno in der Po-Ebene genügten 50 diagnostizierte Fälle, um die Stadt dicht zu machen und sie zur roten Zone zu erklären. Warum geschah dasselbe nicht im Seriana-Tal? Weil sich im Tal des Flusses Serio eines der wichtigsten Industriezentren Italiens befindet und weil die Industriebosse auf alle Institutionen Druck machten, um die Schließung ihrer Fabriken zu verhindern.
So unglaublich es auch scheinen mag, das Gebiet mit den meisten Corona-Toten pro Einwohner in Italien (und Europa) ist nie zur „roten Zone“ erklärt worden – zum Entsetzen der Bürgermeister und der Bevölkerung, die dies immer wieder gefordert haben. Dabei hätten hunderte Menschenleben gerettet werden können.
Doch diejenigen, die ein Interesse haben, dass die Fabriken weiter in Gang gehalten werden, sind dieselben, die an privaten Kliniken verdienen. Die Lombardei ist die Region Italiens, in der das Gesundheitswesen am stärksten kommerzialisiert wurde.
Die beiden am 23. Februar positiv getesteten Patienten hatten Kontakt zu anderen Patienten, zu Ärzten und Pflegepersonal. Deshalb beschloss die Klinikleitung, das Krankenhaus zu schließen. Wenige Stunden später wurde es wieder geöffnet – ohne irgendeine Erklärung, ohne die Einrichtung zu desinfizieren oder die Covid-19-Patienten zu isolieren. Ein großer Teil des Personals steckte sich an und verbreitete das Virus in der Bevölkerung. Die Klinik wurde zum ersten großen Infektionsherd: Patienten, die wegen eines bloßen Hüftleidens eingeliefert wurden, starben, weil sie sich in der Klinik mit dem Corona-Virus angesteckt hatten.
Dem zum Trotz und ohne jede Scham begann der italienische Unternehmerverband Confindustria fünf Tage später eine Kampagne auf allen Kanälen mit der Hauptparole: „Bergamo non si ferma – Bergamo läuft weiter.“
Am 8.3., die Zahl der offiziell Infizierten war da auf 997 gestiegen, wurde bekannt, die Regierung in Rom wolle die Lombardei abriegeln. Doch im Seriana-Tal wurden nur Zugang und Ausgang der Gemeinden beschränkt. Alle konnten weiter zur Arbeit gehen; immer noch keine „rote Zone“.
Ab dem 21. März gab es fast 800 Tote täglich. Die Präsidenten der Lombardei und des Piemont forderten, die Produktion müsse eingestellt werden. Premierminister Conte, der bislang gegen diese Maßnahme war, verkündete nun, man werde „alle nicht essentiellen Produktionsaktivitäten“ einstellen.
Die Confindustria ging sofort in die Offensive. Es gelang ihr, Conte Bedingungen abzuringen: Zu der Liste der Unternehmen, die weiter arbeiten durften, wurden viele nicht essentielle hinzugefügt – etwa die Rüstungsindustrie. Außerdem wurde eine Klausel eingefügt, wonach jede Firma, die von sich behauptete, sie sei für die Aufrechterhaltung einer essentiellen ökonomischen Aktivität „funktional“, weiterarbeiten konnte. Dies führte dazu, dass im benachbarten Brescia über 600 Unternehmen, die nicht auf der Liste der essentiellen Betriebe standen, nun begannen, Anträge auf Weiterarbeit auszufüllen.
Die Gewerkschaften gingen geschlossen in den Kampfmodus über und drohten mit Generalstreik. Schließlich lenkte die Regierung ein, einige Betriebe wurden von der Liste wieder gestrichen. Es ist jedoch eine Grauzone geblieben, die vielen Fabriken erlaubt, weiter zu arbeiten. Und viele Beschäftigte arbeiten weiterhin ohne den nötigen Sicherheitsabstand und adäquaten Schutz.
Angela Klein lebt in Köln und ist aktiv für die Sozialistische Zeitung (SoZ)