Es gab ein gutes Dutzend konkrete Anweisungen zur Vorbereitung auf die Pandemie. Nichts wurde umgesetzt
von Tobias Michel
Die Pandemie hat viele unvorbereitet getroffen. Doch die Verantwortlichen mussten dazu regelmäßig die Warnungen überhören. Es mangelte nicht Hinweisen auf die Notwendigkeit, rechtzeitig zu planen und Vorräte anzulegen:
2003: SARS-Pandemie
2004: Das Robert-Koch-Institut (RKI) informiert die Arbeitgeber in Vorträgen über eine notwendige betriebliche Pandemie-Planung. Die Folienvorträge stehen seitdem im Internet bereit.
2006: Der Verband der Betriebs- und Werksärzte (VDBW) informiert fortlaufend ausführlich über die notwendigen betrieblichen Vorbereitungen auf eine Pandemie. Seine Vorschläge betreffen insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen.
2008: Die Unfallversicherung empfiehlt den Arztpraxen die Bevorratung von Schutzausrüstungen.
2009: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) versucht seitdem mit ihren „Zehn Tipps zur betrieblichen Pandemieplanung“, Arbeitgeber in die Handlungspflicht zu nehmen.
2010: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe stellt im „Handbuch Betriebliche Pandemieplanung – zweite erweiterte und aktualisierte Auflage“ auf 180 Seiten ausführlich alle notwendigen Vorbereitungen dar, als übersichtliche Handzettel und mit Checklisten.
2012/2013: MERS-Infektionen
2013: Der Deutsche Bundestag diskutiert die Simulation einer SARS-Corona-Pandemie in Europa und Deutschland.
2015: Am 3. April warnt Bill Gates – https://www.youtube.com/watch?time_continue=12&v=6Af6b_wyiwI&feature=emb_logo“ The next outbreak? We’re not ready‘.
Ab August 2008 wandte sich die zuständige Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege – BGW) mit einer Broschüre an die Arztpraxen:
Auf Grundlage grober Annahmen ergeben sich pro primär versorgender Praxis bis zu 1.600 zusätzliche Konsultationen während der ersten Pandemiewelle. Hieraus resultiere über einen Zeitraum von acht bis zwölf Wochen „ein erhöhter oder zusätzlicher Bedarf folgender Artikel:
• einfacher Mund-Nasen-Schutz für betroffene (infektionsverdächtige) Patienten – 1 Maske pro Patient,
• unsterile Schutzhandschuhe für das medizinische Personal – 1 Paar pro Personalkontakt mit einem betroffenen (infektionsverdächtigen) Patienten, […]
• Atemschutzmasken (FFP2) für das medizinische Personal – mindestens 1 Maske pro Person und Tag/Schicht,
• Schutzbrillen mit Seitenschutz für das medizinische Personal – 1 Schutzbrille pro Person,
• Schutzkittel für das medizinische Personal – mindestens 1 Schutzkittel pro Mitarbeiter und Tag/Schicht, […] Um Versorgungsengpässe im Falle einer Pandemie vorzubeugen, ist es sinnvoll, die beschriebenen Produkte bereits in der interpandemischen Phase zu beschaffen und vorzuhalten. BGW, BÄK und KBV empfehlen daher eine vorausschauende Bevorratung unter Berücksichtigung einer aktuellen Gefährdungsanalyse.“
Allerding: Eine rechtliche Verpflichtung zur vorbeugenden Bevorratung der genannten Hygiene- und Arbeitsschutzartikel besteht nach geltenden Regelungen des ArbSchG und der Biostoffverordnung grundsätzlich nicht. Die Corona-Pandemie lehrt uns: Ohne rechtliche Verpflichtung verpuffen all diese richtigen und guten Vorschläge.
Tobias Michel, verdi; Arbeitsexperte; siehe: http://www.schichtplanfibel.de/
We just come to work here – We don’t come to die *
Arbeits- und Gesundheitsschutz in Zeiten von Corona
Michael Petersen
Millionen Beschäftigte leben seit Beginn der Pandemie in einem nur schwer erträglichen Widerspruch: Privat darf man nix – aber man muss jeden Tag auf Arbeit. Millionen wurden durch Verbote in ihrer Erwerbsarbeit eingeschränkt, im überwiegenden Teil der Industrie aber wurde munter weiter Mehrwert produziert.
Im Gleichschritt mit der Lockerung der Kontaktverbote hat das Kabinett mit Arbeitsminister Heil, SPD, einen „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“** beschlossen.
Worum geht es der Bundesregierung? „… durch die Unterbrechung von Infektionsketten die Bevölkerung zu schützen, die Gesundheit von Beschäftigten zu sichern, die wirtschaftliche Aktivität wiederherzustellen und zugleich einen mittelfristig andauernden Zustand flacher Infektionskurven herzustellen.“ Da ist es wieder, das Mantra dieser Tage: „flatten the curve“. Selbst in einem Arbeitsschutzstandard legt die Regierung offen, worum es geht: kontrollierte und zeitlich gestreckte Ausbreitung der Seuche mit möglichst geringen Einschränkungen der kapitalistischen Produktion – und ein bisschen um die Gesundheit am Arbeitsplatz. Wer erwartet hatte, dass Firmen verpflichtet werden, das Bestmögliche zu tun, damit Beschäftigte sich auf Arbeit nicht anstecken, wird enttäuscht.
Beschäftigte „sollen ausreichend Abstand (mindestens 1,5 m) zu anderen Personen halten“. Wo dies nicht möglich ist, müssen „alternative Schutzmaßnahmen ergriffen“ werden, nämlich „transparente Schutzabdeckungen“. Ist beides weder technisch noch organisatorisch („z. B. in der Montage“) einzuhalten, „sind alternative Maßnahmen (Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen) zu treffen.“
Diese „Mund-Nase-Bedeckungen“ sind die – auch selbstgenähten – Allerweltsstoff-„Masken“. Es handelt sich nicht um Medizinische Mund-Nasen-Schutzmasken (sog. OP-Masken) oder um die im Arbeitsschutz üblichen Partikel-filtrierenden Halbmasken (FFP).***
Ansonsten: Händewaschen, Lüften und Abstand halten: in der Kantine, an der Stempeluhr, auf der Treppe, im Fahrstuhl.
Bemerkenswert noch: „Büroarbeiten sind nach Möglichkeit im Homeoffice auszuführen“. Dies öffnet die Tür für Vereinzelung und digitale Kontrolle von Kolleginnen und Kollegen und für die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben – auch wenn viele Beschäftigte das „Homeoffice“ für erstrebenswert halten.
Die Mehrheit der abhängig Beschäftigten in Deutschland arbeitet in Betrieben mit weniger als 100 Beschäftigten. Die Mehrheit arbeitet auch ohne Betriebsrat und nicht im Geltungsbereich von Tarifverträgen. Dass dieser neue, unzureichende Arbeitsschutzstandard für diese Beschäftigten wirksam wird, muss bezweifelt werden, müssten doch erst die Chefs von der Einhaltung der Soll- und Kann-Bestimmungen überzeugt werden.
Betriebsräte können, gestützt auf das Betriebsverfassungsgesetz und das Arbeitsschutzgesetz, weitergehende Regelungen fordern.
Schutz am Arbeitsplatz vor Ansteckung erfordert Beurteilung jedes einzelnen Arbeitsplatzes, jedes einzelnen Arbeitsvorganges und dann entsprechenden technischen Umbau und / oder Umorganisation. Für Beschäftigte muss eine angemessene persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt werden.
Das kostet Geld und senkt die Produktivität. Deshalb wird die Forderung nach wirksamem Gesundheitsschutz auf erbitterten Widerstand der Unternehmer in großen und kleinen Betrieben stoßen. Die Bundesregierung steht – wie wir am neuen Arbeitsschutzstandard sehen – nicht auf Seiten der Beschäftigten. Diese werden den Schutz ihrer Gesundheit nur im Konflikt erstreiten und erkämpfen können.
Michael Petersen ist BR-Vorsitzender (in der Automobilzulieferindustrie), IGBCE
* Anne Feeney, US-amerikanische Musikerin, Refrainzeile aus einem ihrer vielen großartigen Lieder
** https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Schwerpunkte/sars-cov-2-arbeitsschutzstandard.pdf?__blob=publicationFile&v=1
*** Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Merkblatt
Die Solidarität in den Zeiten der Pandemie
Es gibt keinen gesunden Kapitalismus!
Ich arbeite in Flensburg auf einer Intensivstation. Bisher hat Flensburg nur einzelne COVID-19 Patienten, die intensivpflichtig sind. Meine Kolleg*innen und ich haben trotz starkem Stress bei der Arbeit und familiär eine zusätzliche Station auf die Beine gestellt! Trotzdem sind wir dauernd zu 80-90 Prozent belegt. Da Personal fehlt, arbeiten wir Pflegekräfte aus anderen Bereichen ein. Kann man aber in ein paar Wochen und unter Dauerstress vernünftig ausbilden?
Was die Persönliche Schutzausrüstung (PSA) betrifft, fehlt es immer noch an Mundschutz (vor allem an FPP2), wasserdichten Kitteln und Händedesinfektionsmitteln.
Die hygienischen Standards können wir nicht einhalten, da wir die FPP2-Masken wieder verwenden, statt sie nach Gebrauch zu entsorgen. Das Personal wird immer noch zögerlich getestet, da auch in den Laboren Personal fehlt. Wir arbeiten in Angst, angesteckt zu werden und Patientinnen und Patienten anzustecken.
Wir brauchen eine bedarfsgerechte Personalausstattung im Krankenhaus, in den Altenheimen, in ALLEN Bereichen. Gewinne und die Fallkostenpauschalen im Krankenhaus gehören abgeschafft. Krankenhäuser, Altenheime, Pharmaindustrie, Krankenversicherung, Herstellung von medizinischen Produkten – all das gehört in öffentliche Hand und unter demokratischer Kontrolle! Marie; aktiv bei der SAV