Auf das Virus folgt Erkenntnis

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von Volker Lösch

Corona verklart – und fordert zum Widerstand auf. Man hört bereits: Alles soll dafür getan werden, das alte System unverändert wieder hochzufahren. Wie nach dem Bankenfiasko 2008. Man hat nichts kapiert. Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung. Denn der sogenannte Mainstream wird derzeit auf Themen aufmerksam, die für die meisten bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Nehmen wir die Beispiele Gesundheit und Ungleichheit.

Vor einem Jahr habe ich in Berlin eine Inszenierung zum Thema Gesundheitswesen gemacht. Wir haben Argumente pro und contra in Form eines Gerichtsprozesses aufeinander prallen lassen. Dazu haben Angestellte der Charité aus ihrem Arbeitsalltag erzählt. Der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Pflegepersonal, was Bezahlung, Wertschätzung und Abbau ihrer Arbeitsplätze betrifft, war damals schon ein Skandal. Dass nun aber durch jahrelanges Kaputtsparen Beatmungsgeräte, Schutzausrüstung und Personal fehlen, lässt eine breite Öffentlichkeit ganz unmittelbar erfahren, wie falsch die Privatisierung des Gesundheitssektors war.

Immer mehr kapieren derzeit, dass die Profitorientierung von Gesundheitsunternehmen die Patientenversorgung verschlechtert hat. Dass die Ausbeutung der Mitarbeiter dazu führt, dass immer weniger Menschen diesen Beruf ergreifen wollen. Dass das System dringend abzulösen ist durch ein solidarisches System, welches sich am Gemeinwohl, an der Versorgungsqualität, der medizinischer Notwendigkeit, an dem Patientenwohl und den Mitarbeiterinteressen orientiert. Ich freue mich auf Initiativen zugunsten der Rückkehr zu einer gemeinwohlorientierten Gesundheitsversorgung.

Unsere Art des Lebens, unsere verinnerlichte Ideologie, die schon so lange auf Egoismus, Einzelkampf und Entsolidarisierung setzt, hat der Herausforderung der Pandemie nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Sie macht die Krise für all diejenigen noch größer, die sowieso schon unter dem Neoliberalismus leiden. Da sie keine großen Wohnungen und Gärten haben, an lauten Straßen leben, Männergewalt ausgesetzt sind, keine Hilfe bei der Kinderbetreuung erfahren, Tätigkeiten nachgehen müssen ohne Mindestabstand, ihre schlecht bezahlte Arbeit verloren haben oder kurzarbeiten müssen.

Corona wirkt global, aber trifft die Menschen ungleich. So entdecken viele zum ersten Mal ein zweites existentielles Thema: die zunehmende Ungleichheit. Es wird spürbar, dass die Pandemie eine Gesellschaft hinterlassen kann, die sozial stärker gespalten ist als zuvor. Es wird denkbar, dass die Krise brutale Verteilungskämpfe auslösen wird. Es wird vorstellbar, dass – wie 2008 – die Leidtragenden wieder die Armen sein werden. Dem Virus folgt Erkenntnis.

Man nimmt verwundert wahr, dass ungleich mehr Menschen nun meinen, die öffentliche Vorsorge muss besser, gerechter und sozialer werden. Unerwartet werden bisher tabuisierte Themen breit debattiert: dass unsere Gesellschaft eine Umverteilung des Reichtums braucht, dass das Wirtschaftssystem umgebaut, die scheinbar naturgesetzliche Logik des Profits in Frage gestellt werden muss. Wenn diese neue Dynamik der Kritik sich zu handfester Politik entwickeln sollte, dann sehen wir spannenden Zeiten entgegen!

Aber Vorsicht – diesen kleinen Bewusstseins-Vorsprung müssen wir ausbauen. Denn die politische Front der Reaktion formiert sich bereits in aller Deutlichkeit. Kämpfen wir also gegen das blinde „Weiter so wie bisher“. Gegen das zerstörerische „Wachstum über alles“. Für eine nachhaltige Wirtschaftsweise. Gegen Milliardenhilfen für Konzerne. Für die Umwandlung von Rüstungsindustrie, Autoindustrie und Flugzeugbau. Gegen Abwrackprämien. Für solidarische Hilfsprogramme weltweit und in der EU. Für die hohe Besteuerung von Vermögen und Gewinnen. Für ein öffentliches Gesundheitssystem und eine einheitliche Krankenversicherung. Für solidarische Verhaltens- und Lebensweisen. Für die Vernunft.

Volker Lösch ist Regisseur. Siehe seine jüngste Rede auf der 510. Montagsdemonstration gegen „Stuttgart21“ vom 27. April 2020 auf: www.bei-abriss-aufstand.de